Menschenwürde (Teil 1)
Als Menschenwürde versteht man die Vorstellung, dass alle Menschen unabhängig irgendwelchen Merkmalen wie etwa Herkunft, Geschlecht oder Alter denselben Wert haben, da sie sich alle durch ein dem Menschen einzig gegebenes schützenswertes Merkmal auszeichnen, nämlich die Würde.
Rechtsphilosophie und Rechtstheorie[↑]
Aus der Menschenwürde wilrd rechtsphilosophisch der rechtsstaatliche Schutz des Menschen und seiner Würde abgeleitet. Zu eben diesem Schutz werden daher die Menschenrechten formuliert. Die Menschenwürde und die Menschenrechte stehen daher als unveräußerliche Rechte über der Verfassung und über den Gesetzen eines jeden Staates.
Im Rahmen des Staatswesens konstituiert sich die Menschenwürde aus der von jeder Gegenleistung unabhängigen Achtung der Menschenrechte und Grundrechte und ihrem Schutz durch den Staat. Nur wo der unbedingte Schutz der Menschenwürde gewährleistet ist, kann man von einem gleichberechtigten und freiheitlichen Gemeinwesen sprechen.
–Menschenwürde bei Kant [Bearbeiten]
Der Mensch als „Zweck an sich“ darf nie nur „Mittel zum Zweck“ sein.
Eine umfassende Definition der Achtungswürdigkeit und der Menschenwürde an sich findet sich bei Immanuel Kant in seiner Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Das Grundprinzip der Menschenwürde besteht für Kant in der Achtung vor dem Anderen, in der Anerkenntnis seines Rechts zu existieren und in der Anerkenntnis einer prinzipiellen Gleichwertigkeit aller Menschen.
Für Kant ist der Mensch ein Zweck an sich und darf demnach nicht einem ihm fremden Zweck unterworfen werden. Für Kant wird die Menschenwürde daher immer dann verletzt, wenn ein Mensch einen anderen bloß als Mittel für seine eigenen Zwecke benutzt: „Die Wesen, deren Dasein zwar nicht auf unserem Willen, sondern der Natur beruht, haben dennoch, wenn sie vernunftlose Wesen sind, nur einen relativen Werth, als Mittel, und heißen daher Sachen, dagegen vernünftige Wesen Personen genannt werden, weil ihre Natur sie schon als Zwecke an sich selbst, das ist als etwas, das nicht bloß als Mittel gebraucht werden darf, auszeichnet, mithin so fern alle Willkür einschränkt (und ein Gegenstand der Achtung ist).“[1]
Die Ansichten Kants finden sich heute in der Objektformel, mit der eine Verletzung der Menschenwürde verfassungsrechtlich bestimmt wird. Auf Kant basiert aber auch die Idee von der sittlichen Autonomie des Menschen.
Aber auch in der aktuellen philosophischen Diskussion ist die Menschenwürde keine Konstante:
Aufgrund ihrer Herkunft wird die Idee der Menschenwürde von einigen außereuropäischen Kritikern als rein westlich und kulturell gebunden angesehen.
Der Vorstellung der grundsätzlichen Menschenwürde widerspricht auch die heutzutage die utilitaristische Philosophie, wie sie prominent etwa von dem Australier Peter Singer vertreten wird, der anknüpfend an Werner Catel und Joseph Fletcher, die Ansicht vertritt, dass Menschenwürde und mit ihr das „Recht auf Leben auf die Fähigkeit, weiterleben zu wollen, oder auf das Vermögen, sich als kontinuierliches mentales Subjekt zu betrachten, gegründet werden muss”[2].
Eine philosophische Begründung Menschenwürde liefern dagegen die Vertreter der Diskursethik, die wie etwa Dietrich Böhler im kritischen Rekurs auf Immanuel Kant postulieren, dass in der Fähigkeit zum Diskurs, zum rationalen Argumentieren bzw. überhaupt zum Äußern einer Position, die selbst Anspruch auf Geltung erhebt, implizit die Verpflichtung zur Anerkennung der Menschenwürde aller möglichen Diskurspartner (aller Menschen) enthalten sei und philosophisch erwiesen werden könne[3].
Rechtstheoretisch wird diskutiert, ob und in welchem Umfang Gesetze, die Grundrechte wie etwa die Meinungsfreiheit, der Schutz vor Folter und Hinrichtung, das Recht auf Teilhabe oder auf Gesundheit, einschränken, auf der Grundlage der Menschenwürde erlassen werden können. Dabei wird die Vorstellung, dass die Menschenwürde als ethisches Grundprinzip zeitlos ist und als Maßstab über jeder Staatsform steht, trotz seiner verfassungsrechtlicher Verankerung nicht von allen Rechtstheoretikern akzeptiert.
Menschenwürde in der Antike[↑]
Der antiken griechischen Gedankenwelt ist der Begriff der Menschenwürde unbekannt. Auch in der Vernunft (logos) des Menschen ist für die griechischen Philosophen kein Anspruch auf eine Menschenwürde angelegt:
So folgt etwa für Aristoteles aus der Tatsache, dass der Mensch ein rationales Wesen ist, nicht, dass er auch bestimmte Ansprüche an andere Menschen oder an die Gesellschaft hat.
Auch die Nikomachische Ethik kennt nicht den Begriff der Menschenwürde. Sie kennt lediglich zwei Typen der Gerechtigkeit, wobei etwa in der distributiven Gerechtigkeit dem Einzelnen nach dem Prinzip der Würdigkeit und des Verdienstes zugeteilt werden soll. Die Würdigkeit bemisst sich dabei nach dem, was der Einzelne für die Gemeinschaft geleistet hat.
Anders noch die griechischen Philosophen kann die römische Gedankenwelt die Begriffe der „humanitas” und der „dignitas”.
Grundlegend für das Verständnis der „humanitas” ist Cicero. Cicero versteht die „humanitas” noch nicht als personale Eigenschaft, sondern als Unterscheidungskriterium zum Tier. Erst später entwickelt Cicero in seinen beiden Werken „De re publica” („Über den Staat” und „De officiis” („Vom pflichtgemäßen Handeln”) das Konzept der dignitas, der Würde und Würdigkeit des Menschen, als gesellschaftliches Konzept.
Dabei ist die dignitas für Cicero abstufbar: Im Rahmen seiner Verfassungsdiskussion über Königtum, regnum, Aristokratie oder Demokratie etwa kritisiert er die Herrschaft des Volkes, weil dann die Würde unbilligerweise gleichmäßig verteilt sei und keine Stufen der Würde kenne[4].
Dabei ist die dignitas, die Würde, für Ciciero kein originärer Begriff. Die dignitas lässt sich für ihn vielmehr zurückführen auf Begriffe wie laus (Lob), honor (Ehre) oder gloria (Ruhm). Daher gibt es für Cicero auch nicht die eine dignitas, sondern viele verschiedene dignitates[5] als eine unter vielen gleichberechtigten menschlichen Eigenschaften.
Daneben bezeichnet die dignitas aber auch eine soziale Relation zwischen Individuum und Gemeinwesen, als Nützlichkeit (utilitas) der Taten für die Gemeinschaft. So sind für Cicero nicht alle Taten nützlich für ein Gemeinwesen und steigern damit auch nicht die Würde des Einzelnen. Auch muss die Nützlichkeit dem Urteil der Gemeinschaft überlassen werden. Die dignitas ist damit eine persönlich zu erwerbende Eigenschaft, sie muss verdient werden.
Hieraus wird deutlich, dass Cicero durchaus in der aristotelischen Tradition steht, wonach Würde und Würdigkeit immer bezogen sind auf die persönliche Leistung eines einzelnen für sein Gemeinwesen. Würde muss man sich verdienen und man kann sie verlieren. Für Cicero, der die Leistungen Cäsars anerkannte, war Cäsar sowohl praktisch-politisch wie auch theoretisch ein Problem. Man kann sogar soweit gehen und sagen, dass Cicero seine Ideen an Cäsar geschärft hat. So erkennt er zwar die Leistungen Cäsars für das Gemeinwesen an, nicht jedoch den Schritt Cäsars, als er diese einfordert. Dignitas ist demnach kein unbedingter Anspruch, dem man aus Leistungen unmittelbar ableiten kann. Cicero weist darauf hin, dass das Gemeinwesen die letzte Urteilsinstanz dafür bleibt und nicht der einzelne. Cäsar hatte mit dem Überschreiten des Rubicon (und der Vertreibung des Senats) etwas eingefordert, was man nicht einfordern kann.
Daneben entwickelt Cicero in „De officiis” aber auch das Konzept einer angeborenen Würde des Menschen, mit dem er dem gesellschaftlichen Konzept von Würde ein Konzept von menschlicher Würde entgegen setzt, die nicht aberkannt werden kann. Dort, wo Cicero vom Menschen im Gegensatz zum Tier redet, billigt er allen Menschen eine Würde zu (Cic. off. I,106)).
Der Mensch Würde erhält seine Würde demnach, weil er im Gegensatz zum Tier vernünftig ist, und zwar zunächst unabhängig von seinen Leistungen. Er muss sich diese Würde durch ein entsprechendes Verhalten (kein Luxus, keine Prunksucht) aber bewahren.
Die Würde ist damit für die griechische und römische Antike abstufbar und veräußerlich: Sie ist abstufbar, indem sie abhängig ist von den Taten, dem Charakter und der Gesinnung des Einzelnen in Bezug auf seine Nützlichkeit für die Gemeinschaft. Sie ist veräußerlich, da man durch unsittliches (inhonestum) oder ungebührliches (indecorum) Vrhalten seine Würde verlieren kann. Die Würde des Menschen ist für die griechischen und römischen Denker damit kein kein unveräußerlicher, universeller Anspruch, sie ist statt dessen persönlich formuliert.
Menschenwürde im frühen Christentum[↑]
Die Idee der Menschenwürde finden sich in Grundzügen bereits im frühen Judentum und im Christentum, etwa wenn in der Bibel von dem Gedanken der Gottebenbildlichkeit des Menschen[6] die Rede ist, woraus die fundamentale Gleichheit der Menschen folgt. Der Gleichheitsgedanke manifestierte sich dabei zunächst als „Gleichheit aller Gläubigen vor Gott“. Bei Paulus kommt diese Vorstellung radikal zum Ausdruck: „Es gibt nicht mehr Juden und Griechen, nicht Sklaven und Freie, nicht Mann und Frau; denn ihr alle seid «einer» in Christus Jesus“[7].
In Folge der Reformation und der protestantischen Vorstellung vom allgemeinen Priestertum fand seit dem 16. Jahrhundert der Gedanke der Gewissensfreiheit immer größere Verbreitung.
Menschenwürde in den Umwälzungen des 18. Jahrhunderts[↑]
Die Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten vom 4. Juli 1776 spricht von „gewissen, unveräußerlichen Rechten“ etwa auf „Leben, Freiheit und dem Streben nach Glück“. Dies setzt – wie auch bei dem gleichen Ansatz in der am 26. August 1789 von der französichen Nationalversammlung verabschiedeten französischen Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte – ein gewisses Verständnis der Menschenwürde vorauss, auch wenn sie in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung nicht direkt erwähnt wird.
Die UN-Menschenrechtsdeklaration[↑]
Nach Artikel 1 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte vom 10. Dezember 1948 sind alle Menschen frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geiste der Brüderlichkeit begegnen.
Die Menschenwürde in der deutschen Verfassungsgeschichte[↑]
Die Weimarer Reichsverfassung von 1919 bestimmte in seinem von Ferdinand Lassalle initiierten Artikel 151 zu Beginn des Fünften Abschnitts „Das Wirtschaftsleben“: „Die Ordnung des Wirtschaftslebens muss den Grundsätzen der Gerechtigkeit mit dem Ziele der Gewährleistung eines menschenwürdigen Daseins für alle entsprechen.“
Nach der „Machtergreifung“ am 30. Januar 1933 wurde die Weimarer Reichsverfassung und das ihr zugrunde liegende Verfassungsverständnis im Nationalsozialismus Stück für Stück durch neue Rechtsgrundsätze ersetzt. Dies betraf auch das Verständnis der Menschenwürde. Nunmehr galt, dass „Recht ist, was dem Volke nützt!“ und „Der Führer schützt das Recht!“ Der Nationalsozialismus mit seinem Rassismus und Antisemitismus, mit seiner Theorie vom „Lebensraum” und vom „Untermenschen” und mit seinem Sozialdarwinismus ließ keinen Platz mehr für das geschichtlich entwickelte Verständnis von der Menschenwürde, die Konzentrationslager und Vernichtungslager der Nationalsozialisten ware geradezu die Stein gewordene Verneinung jeglicher Menschenwürde. Holocaust und Euthanasie („Aktion T4”), ließen für eine Menschenwürde keinen Platz. Die meisten dieser Gesetze, Führerbefehle und Erlasse wurden von den Alliierten nach dem Zusammenbruch des Nationalsozialismus 1945 schrittweise aufgehoben. Aber erst 40 Jahre später wurden auch die Nazi-Gerichtsurteile in ihrer Gesamtheit für nichtig erklärt.
In der „Deutschen Demokratischen Republik” knüpfte die Verfassung der DDR vom 7. Oktober 1949 an Art. 151 der Wemarer Rechtsverfassung an und bestimmte in Artikel 19 (Wirtschaftsordnung): „Die Ordnung des Wirtschaftslebens muss den Grundsätzen sozialer Gerechtigkeit entsprechen; sie muss allen ein menschenwürdiges Dasein sichern.”
Die Verfassung der DDR vom 6. April 1968 verstand die Menschenwürde dann umfassender und bestimmte in Art. 19: „Achtung und Schutz der Würde und Freiheit der Persönlichkeit sind Gebot für alle staatlichen Organe, alle gesellschaftlichen Kräfte und jeden einzelnen Bürger.” Allerdings waren diese Rechte in der DDR nicht einklagbar.
- Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten II[↩]
- Singer, Ethik, 2. Auflage 1994; S. 221[↩]
- Böhler, Dietrich: Diskursethik und Menschenwürdegrundsatz zwischen Idealisierung und Erfolgsverantwortung, 1992, S. 201–231[↩]
- Cic.rep. I,43[↩]
- vgl. Cic.rep. I,53[↩]
- Gen 1,27[↩]
- Gal 3,28 f.[↩]