Freie Ent­fal­tung der Per­sön­lich­keit – All­ge­mei­ne Handlungsfreiheit

Jeder hat das Recht auf die freie Ent­fal­tung sei­ner Per­sön­lich­keit, soweit er nicht die Rech­te ande­rer ver­letzt und nicht gegen die ver­fas­sungs­mä­ßi­ge Ord­nung oder das Sit­ten­ge­setz verstößt.

[Art. 2 Abastz 1 GG]

Art. 2 Abs. 1 GG garan­tiert im Rah­men der ver­fas­sungs­mä­ßi­gen Ord­nung die freie Ent­fal­tung der Per­sön­lich­keit. Die huma­nis­ti­sche Welt­an­schau­ung sieht die freie Ent­fal­tung der eige­nen Per­sön­lich­keit und der des Mit­men­schen als das höchs­te Ziel des mensch­li­chen Lebens an[1].

Neben der Garan­tie der frei­en Ent­fal­tung der Per­sön­lich­keit, ver­stan­den als Schutz der all­ge­mei­nen Hand­lungs­frei­heit, wer­dem aus Art. 2 Abs. 1 GG in Ver­bin­dung mit der in Art. 1 Abs. 1 GG als unan­tast­bar geschütz­ten Men­schen­wür­de auch das all­ge­mei­ne Per­sön­lich­keits­rechts ein­schließ­lich des Rechts auf infor­ma­tio­nel­le Selbst­be­stim­mung als eigen­stän­di­ges Grund­recht hergeleitet.

Per­sön­li­cher Schutz­be­reich[↑]

Art. 2 Abs. 1 GG garan­tiert das Grund­recht auf freie Ent­fal­tung der Per­sön­lich­keit für Jeder­mann. Trä­ger die­ses Grund­rechts ist daher nicht nur ein deut­scher Staats­an­ge­hö­ri­ger, son­dern jeder Mensch. Auch inlän­di­sche juris­ti­sche Per­so­nen wie etwa Han­dels­ge­sell­schaf­ten oder Ver­ei­ne kön­nen gemäß Art. 19 Abs. 3 GG vom Schutz­be­reich der All­ge­mei­nen Hand­lungs­frei­heit umfasst sein.

Sach­li­cher Schutz­be­reich – Die all­ge­mei­ne Hand­lungs­frei­heit[↑]

Art. 2 Abs. 1 GG schützt „die freie Ent­fal­tung der Per­sön­lich­keit”. Aus die­sem Wort­laut wur­de in der zunächst vor­herr­schen­den Per­sön­lich­keits­kern­theo­rie gefol­gert, dass von Art. 2 Abs. 1 GG nur beson­de­re, „hoch­wer­ti­ge” Per­sön­lich­keits­ent­fal­tun­gen geschützt sind, da nur so das Grund­recht dem Gewicht der übri­gen Grund­rech­te ver­gleich­bar ist.

Dage­gen hat das Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richt bereits früh in sei­ner Elfes-Ent­schei­dung[2] zur Aus­rei­se­frei­hei­it ent­schie­den, das Art. 2 Abs. 1 GG eine „all­ge­mei­ne Hand­lungs­frei­heit” gewähr­leis­tet und damit selbst so bana­le Din­ge wie „das Rei­ten im Wal­de”[3] schützt. Grund­la­ge die­ser wei­ten Aus­le­gung ist die Gesetz­ge­bungs­ge­schich­te: Der Par­la­men­ta­ri­sche Rat woll­te dem Grund­recht zunächst die weit­rei­chen­de For­mu­lie­rung „Jeder kann tun und las­sen was er will” geben, wähl­te dann aber der sprach­li­chen Gefäl­lig­keit wegen die heu­ti­ge For­mu­lie­rung, ohne mit die­sem geän­der­ten Wort­laut auch eine inhalt­li­che Ein­schrän­kung zu beab­sich­ti­gen. Als einen wei­te­ren Beleg dafür, dass der Ver­fas­sungs­ge­setz­ge­ber ein sol­ches wei­tes Ver­ständ­nis zugrun­de gelegt hat, spricht für das Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richt auch, dass die Schran­ken – und hier ins­be­son­de­re die Schran­ke der „ver­fas­sungs­mä­ßi­gen Ord­nung” – wei­ter gefasst sind als bei jedem ande­ren Grund­recht, was aber nur bei einem unge­mein wei­ten Schutz­be­reich Sinn macht.

Die­se vom Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richt vor­ge­ge­be­ne Aus­le­gung des Grund­rechts auf freie Ent­fal­tung der Per­sön­lich­keit ist heu­te all­ge­mein aner­kannt, wes­we­gen das in Art. 2 Abs. 1 GG geschütz­te Grund­recht weit­ge­hend als „all­ge­mei­ne Hand­lungs­frei­heit” ver­stan­den wird. Die­se in Art. 2 Abs. 1 GG geschütz­te all­ge­mei­ne Hand­lungs­frei­heit stellt damit ein „Auf­fang­grund­recht” dar, das immer ein­greift, wenn spe­zi­el­le­re Grund­rech­te nicht vor­han­den sind, teil­wei­se auch, wenn die Vor­aus­set­zun­gen die­ser spe­zi­el­len Grund­rech­te nicht erfüllt sind. Dem­nach darf bei­spiels­wei­se jeder­mann aus­rei­sen[4] oder Tau­ben füt­tern[5].

Dar­über hin­aus ist Art. 2 Abs. 1 GG auch ein Auf­fang­grund­recht für Aus­län­der: Soweit eini­ge Grund­rech­te als „Deut­schen­grund­rech­te” aus­ge­stal­tet sind, kön­nen sich Aus­län­der statt­des­sen auf Art. 2 Abs. 1 GG – aller­dings mit der dort bestehen­den weit­rei­chen­den Ein­schrän­kungs­mög­lich­keit – berufen.

In die­sem Zusam­men­hang erlangt die all­ge­mei­ne Hand­lungs­frei­heit des Art. 2 Abs. 1 GG auch eine beson­de­re Bedeu­tung für Uni­ons­bür­ger, also für Ange­hö­ri­ge eines ande­ren Mit­glieds­staats der Euro­päi­schen Uni­on. Für die­se Uni­ons­bür­ger schreibt der Ver­trag zur Grün­dung der Euro­päi­schen Gemein­schaft in allen Mit­glieds­staa­ten ein Ver­bot der Dis­kri­mi­nie­rung vor (Art. 12 EG). Die­ses uni­ons­recht­li­che Dis­kri­mi­nie­rungs­ver­bot und der hier­durch allen Uni­ons­bür­gern gewähr­te Schutz wird bei den „Deut­schen­grund­rech­ten” mit­hil­fe einer uni­ons­rechts­kon­for­men Aus­le­gung des Art. 2 Abs. 1 GG erreicht.

Die­ses Ver­ständ­nis des Art. 2 Abs. 1 GG als ein sub­si­diä­res Auf­fang­grund­recht hat die Stel­lung des Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richts erheb­lich gestärkt, dann nun­mehr kann jeder Bür­ger jedes ihn belas­ten­de Gesetz unter Beru­fung auf sein Grund­recht der all­ge­mei­nen Hand­lungs­frei­heit durch eine Ver­fas­sungs­be­schwer­de vor dem Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richt auf sei­ne Ver­ein­bar­keit mit dem Grund­ge­setz prü­fen las­sen – auch wenn das Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richt die meis­ten die­ser Ver­fas­sungs­be­schwer­den nach einer ers­ten Prü­fung nicht zur Ent­schei­dung annimmt.

Eine Ein­schrän­kung nimmt das Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richt inso­weit aller­dings bei der Über­prü­fung einer behaup­te­ten unrich­ti­gen Rechts­an­wen­dung durch die Recht­spre­chung vor. Auch hier­bei liegt regel­mä­ßig eine Ver­let­zung der all­ge­mei­nen Hand­lungs­frei­heit vor, da bei einer unrich­ti­gen Geset­zes­aus­le­gung die belas­ten­de Ent­schei­dung gera­de nicht mehr von der „ver­fas­sungs­mä­ßi­gen Ord­nung” gedeckt ist. Mit die­ser Begrün­dung könn­te das Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richt eine Über­prü­fung aller Urtei­le der bun­de­deut­schen Fach­ge­rich­te vor­neh­men. Aller­dings ist eine sol­che „Super­re­vi­si­ons­in­stanz” weder nach dem Selbst­ver­ständ­nis des Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richt sinn­voll wäre dies vom Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richt auch über­haupt zu bewäl­ti­gen. Des­halb beschränkt das Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richt sei­ne Prü­fung von Urtei­len auf die Ver­let­zung von spe­zi­fi­schem Ver­fas­sungs­recht, also dar­auf, ob eine Ent­schei­dung will­kür­lich war oder ob in der gericht­li­chen Ent­schei­dung die Bedeu­tung der Grund­rech­te über­haupt ver­kannt wur­de. Eine Ver­fas­sungs­be­schwer­de, die dage­gen nur die fal­sche Anwen­dung des (ein­fach­ge­setz­li­chen) Rechts rügt, wird dage­gen vom Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richt nicht zur Ent­schei­dung angenommen.

Dane­ben hat die­ses Ver­ständ­nis der All­ge­mei­nen Hand­lungs­frei­heit als ein sub­si­diä­res Auf­fang­grund­recht aber auch Aus­wir­kun­gen im Ver­wal­tungs­recht (ein­schließ­lich des Steu­er­rechts und des Sozi­al­rechts), wo sie im Rah­men des Rechts­schut­zes zur Adres­sa­ten­theo­rie führt: Da jeder belas­ten­de Ver­wal­tungs­akt den Adres­sa­ten mög­li­cher­wei­se zumin­dest in sei­nem Recht aus Art. 2 Abs. 1 GG ver­let­zen könn­te, liegt bei dem Bür­ger für jeden an ihn gerich­te­ten Ver­wal­tungs­akt die erfor­der­li­che Kla­ge­be­fug­nis vor.

Ein­griff in die all­ge­mei­ne Hand­lungs­frei­heit[↑]

Denk­ba­re Ein­grif­fe in die All­ge­mei­ne Hand­lungs­frei­heit sind auf­grund der umfas­send ver­stan­de­nen Wei­te die­ses Grund­rechts unend­lich viel­fäl­tig. Daher wer­den als grund­rechts­re­le­van­te Ein­grif­fe in die All­ge­mei­ne Hand­lungs­frei­heit nur „erheb­li­che Ein­grif­fe” ver­stan­den, wäh­rend Baga­tel­len schon nicht als Ein­griff in den Schutz­be­reich des Art. 2 Abs. 1 GG ange­se­hen werden.

Vom Grund­rechts­schutz der All­ge­mei­nen Hand­lungs­frei­heit wer­den aller­dings nicht nur „klas­si­sche” Ein­grif­fe, also ziel­ge­rich­te­te (fina­le), unmit­tel­ba­re, rechts­för­mi­ge und not­falls mit (Verwaltungs-)Zwang durch­setz­ba­re Ein­grif­fe, umfasst, son­dern auch sol­che Maß­nah­men, die nur zu fak­ti­schen Beein­träch­ti­gun­gen führen.

All­ge­mei­ne Hand­lungs­frei­heit und die Schran­ken­tri­as[↑]

Art. 2 Abs. 1 GG garan­tiert die all­ge­mei­ne Hand­lungs­frei­heit nicht schran­ken­los, son­dern sieht hier­für drei Schran­ken vor. So wird die freie Ent­fal­tung der Per­sön­lich­keit nur garan­tiert im Rahmen

  1. der ver­fas­sungs­mä­ßi­gen Ordnung,
  2. den Rech­ten ande­rer und
  3. dem Sit­ten­ge­setz[6].

Dabei hat heu­te aller­dings fast nur noch die Schran­ke der ver­fas­sungs­mä­ßi­gen Ord­nung Bedeu­tung, die alle for­mell und mate­ri­ell recht­mä­ßi­gen Rechts­nor­men umfasst, ange­fan­gen vom Grund­ge­setz über die Bun­des­ge­set­ze und Bun­des­rechts­ver­ord­nun­gen über die Lan­des­ver­fas­sun­gen und Lan­des­ge­set­ze bis hin zu den Sat­zun­gen der Krei­se, Städ­te und Gemein­den, und damit ange­sichts der heu­ti­gen Nor­men­dich­te nahe­zu alle Lebens­be­rei­che und Lebens­la­gen umschließt. Aller­dings müs­sen auch hier die ein­schrän­ken­den Geset­ze dem Über­maß­ver­bot genü­gen, also ver­hält­nis­mä­ßig sein.

Für eine Ein­schrän­kung eines Grund­rechts ver­langt Art. 19 Abs. 1 Satz 2 GG, dass das Gesetz das Grund­recht unter Anga­be des Grund­ge­setz­ar­ti­kels nen­nen muss. Da nun aber nahe­zu jedes Gesetz die all­ge­mei­ne Hand­lungs­frei­heit ein­schränkt, gilt die­ses Zitier­ge­bot des Art. 19 Abs. 1 S. 2 GG nicht für die Ein­schrän­kung der all­ge­mei­nen Handlungsfreiheit.

  1. vgl. Erich Fromm, Haben oder Sein, 2001, S. 163[]
  2. BVerfGE 6, 32, 36 f.[]
  3. BVerfGE 80, 137, 152 ff.[]
  4. BVerfGE 6, 32 [Elfes][]
  5. BVerfGE 54, 143, 146[]
  6. vgl. BVerfGE 6, 389, 433 ff. [Homo­se­xua­li­tät][]